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Kritik von Werner Zintgraf zum Konzert am 12.10.1980
Ein Höhepunkt in Nagolds Musikleben
Unvergeßliche Aufführung von Honeggers "König David" - Ausgezeichnete Solisten

Nagold. Wenn Kantor Gerhard Kaufmann zur Einführung in seine denkwürdige Aufführung des symphonischen Psalms "König David" von Arthur Honegger über eine in die Zukunft hoffende Aussagekraft sprach, traf er im Grunde haargenau Honeggers Kulturpessimismus: "Dem Ende unserer Musikkultur, das nur um ein weniges dem Ende unserer Kultur überhaupt vorausgeht, muß man mit klarem Auge, so wie dem Tode, entgegensehen. Wenig hellsichtig wäre der, der dieses Ende leugnen wollte."
Vielleicht ist gerade deshalb seine Musik so klarsichtig, so kindhaft-gläubig zu diesem biblischen Sündenfall vom glänzenden Aufstieg bis zur tiefsten Erniedrigung geraten. Diesem in französisch-mediterranem Geist aufgewachsenen, doch vom "schweizerischen Atavismus und helvetischer Sensibilität" geprägten, mit der Bibel vertrauten Komponisten gelang mit "König David" eine geniale Integration altorientalischer Kulthandlungen und barocker Feierhaltung. Knapp 60 Jahre nach der ersten Aufführung in Méziérs (Waadtland) darf die Behauptung gewagt werden, daß dieses Werk die Zeiten überdauern wird. Ich werde nie jenen 21. Juli 1962 vergessen, als ich es in der Essener Erlöserkirche zum erstenmal hörte und am Schluß die von Erschütterung übermannte, tränenüberströmte große Gloria Davy erlebte.
Die Kantoreien aus Balingen (wo das Werk unter Gerhard Rehm am kommenden Samstag nochmals aufgeführt wird) und aus Nagold hatten sich einer schwierigen Aufgabe gestellt und diese trotz ein paar kleiner begreiflicher Unsicherheiten bravourös bewältigt - dank der souveränen Auslegung der Partitur und präzisen dirigentischen Weisungen Gerhard Kaufmanns, mit denen er vor allem die vielen rhythmischen Klippen überwand, wobei hier besonders der komplizierteste Teil "Tanz vor der Bundeslade" angesprochen ist.
Honegger legt (auch) den chorischen Partien ostinate Motive und Themen zugrunde, die sich, oft gekoppelt mit einem Choral, aus dem Unisono zur polytonalen Vielstimmigkeit entfalten und erreicht dadurch ständig neue dramatische Steigerungen. Chorische Glanzpunkte an diesem Sonntagabend in der ev. Stadtkirche wurden der Siegesgesang "Heil David", der Psalm "Gott, mein Herr", die Phase "Großer Gott, komm zu uns" (gemeinsam mit der Sopranistin) im "Tanz vor der Bundeslade", ferner der eindrucksvolle Lobgesang "Horch mein Herz", der zu wuchtiger Dynamik auflaufende Psalm "Ich werde mich ergeben". Beide Chöre dürfen stolz auf ihre Leistungen sein.
Wen auch immer die deutsche Nachdichtung von René Morax' Drama (dem Auftraggeber Honeggers) nicht befriedigt haben mag - ich finde die konzentrierte poetische Übersetzung von Hans Reinhart gerade für jene Zeit ganz hervorragend! - der Ehinger Deutschlehrer Walter Frei und sein Kollege Karl-Otto Schöfferle suchten nach einer textlich erweiterten, Reinharts Sprache korrigierenden Fassung des Erzählers. Daß dabei öfters, teilweise innerhalb eines Satzes, Gegenwart und Vergangenheit sich reiben, wäre vielleicht einer Überprüfung wert. Walter Frei jedoch zeichnete sich als ein klar artikulierender, eher nüchterner Berichter der Historie Davids mit gutem Einfühlungsvermögen in den musikalischen Ablauf aus. Eine falsche Übersetzung des Psalms (in Nr. 20 des Programmtextes) "Ich bin gezeugt in Sünd und Not" geht jedenfalls nicht auf sein Konto und beweist nur, daß auch andere schon an Reinharts Fassung (seltsamerweise mit Erlaubnis des Verlegers) herumgedoktert haben.
Drei hervorragende Solisten trugen wesentlich zum eindrucksvollen Geschehen bei, zwei davon waren schon früher hier zu Gast: Der Frankfurter Tenor Friedreich Melzer gab seinen drei Psalmgesängen mit feinen /orchestralen Klangstützen Wärme und Klarheit. Die Stuttgarter Altistin Gerda Blau-Lorek überzeugte erneut schon zu Beginn mit Davids Hirtenlied (von der Empore) wie hernach im Gesang der Dienerin durch ihre schöne, füllig-tragende Stimme. In einer der heikelsten Partien, dem Melodram "Die Beschwörung durch die Hexe von Endor", wurde sie trotz Mikrophon vom Orchester fast zugedeckt; das "poco piu animato" hatte Gerhard Kaufmann mehr auf eine forcierte Dynamik anstelle der Intensität beschwörenden Ausdrucks angelegt. Ein Gag gelang ihm allerdings auch hier am Schluß mit seiner auf Tonband verfremdend eingeblendeten, wie aus dem höllischen Untergrund rufenden Stimme "Was weckst du mich aus meinem tiefen Schlafe?"
Eine echte Überraschung war die australische, in Stuttgart lebende Lynette Kutschewski mit einer großen, in allen Lagen leuchtenden, kultivierten Sopranstimme. Sie sorgte in der "Klage von Gilboa" zusammen mit der Altistin, dem Frauenchor, Erzähler und der orchestralen Untermalung (was für großartige musikalische Effekte erreichte hier der Komponist!), in dem für den Frauenchor verzwickten rhythmischen "Festgesang", im Schlußteil des kultischen Tanzes (wundervoll das allmählich sich auffächernde Alleluja!), in dem reizvollen orientalischen "Gesang von Ephraim" (mit Frauenchor) für imposante Höhepunkte.
Die "Stuttgarter Symphoniker" (was man so alles an Firmierungen erfindet!) machten es dem Dirigenten nicht zu schwer, trotz gelegentlicher Reaktionsverzögerungen auf Kaufmanns unmißverständliche Gestik, wobei das 9/8-Larghetto in Nr. 7 durchaus mehr Tempo vertragen würde. Vor allem die tiefen Bläser reagierten in den zumeist langsamen Tempi mißverständlich schwerfällig, auch im "Marsch der Philister", selbst wenn dort "pesante e marcato" vorgeschrieben ist, die Holzbläser aber immer einen Moment früher zur Stelle waren. Zu einem Kabinettstück
wurde die hymnische Umrahmung zur Erzählung von der Krönung Salomons. Äußerst wirkungsvoll auch das Finale in einer geglückten Synthese von Erzähler, Solosopran, Chor und Orchester. Honegger läßt hier noch einmal seine polytonale, aber stets "für die große Masse der Hörer verständliche" (wie er selbst formulierte) Stimmenführung und ungemein farbenreiche Instrumentationskunst aufleuchten.
Bleibt noch nachzutragen, daß eingangs der Heidenheimer Kantor Friedrich Fröschle die große, noch ganz aus dem Geist der Spätromantik inspirierte Orgelchaconne a-Moll von J. N. David spielte und dabei alle Register virtuoser Beherrschung des Instrumentes zog. Das in mehrere Abschnitte gegliederte Werk symphonischen Ausmaßes wurde in seiner ganzen Stimmenvielfalt mit variantenreichen Klangfarben durchhörbar dargestellt, was zu dem Wunsch verführt, diesen Organisten einmal für einen Nagolder Konzertabend zu gewinnen.
Auch wenn die 1927 entstandene Chaconne dieses bedeutenden Komponisten in die stilgeschichtliche Epoche des "König David" fällt, sei doch die Frage erlaubt, warum bei solchem Anlaß nicht Honeggers einziges Orgelwerk oder einer seiner Gesänge für Sopran und Orchester hätten eingefügt werden können?
Es war ein erlebnisreicher Abend, den keiner der nur rund 400 erschienenen Zuhörer so schnell vergessen wird. Für die Nagolder Kantorei, vor allem aber für den als Dirigent über sich selbst hinausgewachsenen Gerhard Kaufmann ein neuer gewichtiger Markstein in ihrem fruchtbaren kulturellen Wirken.

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